Bereits der im römischen Exil lebende griechische Geschichtsschreiber Polybios beschrieb um 160 v. Chr. den Grossen Sankt-Bernhard-Pass als einen der vier Pässe, die zu seiner Zeit für die Nord-Süd-Überquerung der Alpen genutzt wurden. Diese römische Militär- und Handelsstrasse blieb während des ganzen Mittelalters eine wichtige Route. Im ersten Heiligen Jahr 1300 sollen sogar rund 20 000 Pilger den Pass überquert haben, um auf Einladung von Papst Bonifatius VIII. in Rom den vollkommenen Ablass zu erhalten. Der Pass war vor allem aufgrund seiner Topografie einer der beliebtesten: Man kann ihn nämlich in beiden Richtungen fast bis zur Stelle, wo der Aufstieg beginnt, ohne grössere natürliche Hindernisse erreichen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er nicht nur der höchste Punkt, sondern auch der Höhepunkt der berühmten Via Francigena ist – einem historischen Weg, der die Schweiz vom Jura bis zu den Alpen durchquert.
Danke, Sigerich
Sigerich, im Jahr 990 Erzbischof von Canterbury, ist der Autor der ältesten Beschreibung der Via Francigena – ein Zeitzeugnis eines Teils unserer europäischen Geschichte. Als der Mönch nach Rom reiste, um von Papst Johannes XV. das Pallium, das Symbol seiner erzbischöflichen Autorität, entgegenzunehmen, musste er rund 3000 km zu Fuss zurücklegen. Er beschloss, seine Reiseroute – 79 Etappen von jeweils 5 bis 40 Kilometern über den Grossen Sankt-Bernhard-Pass nach Rom – genau zu dokumentieren. In Anbetracht der Tatsache, dass das Hospiz auf dem Pass erst 1050 von Bernhard von Mont-Joux gegründet wurde, um die vielen europäischen Reisenden aufzunehmen, die die Alpen überqueren mussten, war seine Expedition sicherlich nicht einfach.
Das Hospiz und unsere Hunde
Durch die Anziehungskraft der Via Francigena hat sich das Hospiz entsprechend seiner Bestimmung als Herberge im Laufe der Jahre gut entwickelt. Es bot Reisenden und Pilgern Unterkunft, Verpflegung und Schutz und spielte daher eine Schlüsselrolle für den Reiseverkehr der damaligen Zeit. Die erste Erwähnung der Bernhardinerhunde im Hospiz auf dem Grossen Sankt-Bernhard-Pass erfolgte erst rund 600 Jahre später, in Dokumenten aus dem Jahr 1695. Die Hunde wurden zum Schutz des Hospizes, aber auch zur Begleitung von Reisenden und vor allem zur Suche und Rettung von Personen, die sich in Schnee und Nebel verirrt hatten, eingesetzt. Der Bernhardiner namens Barry lebte von 1800 bis 1812 im Hospiz. Er war zweifellos der berühmteste aller alpinen Rettungshunde. Er allein soll mehr als 40 Menschen gerettet haben. Seine Geschichte wird weltweit erzählt.
Die Via Francigena, die in den 1990er-Jahren von Wanderern wiederentdeckt wurde, ist nicht nur für den christlichen Glauben, sondern für alle spirituellen Strömungen von grosser Bedeutung. Die Route eignet sich für Pilger und Wanderer – zur Meditation fernab vom Alltagsstress. Den Weg zu beschreiten, den im Laufe der Jahrhunderte so viele Männer und Frauen – Händler, Soldaten und Pilger – zurückgelegt haben, ist ein höchst symbolischer Akt. Zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen wird der Weg zum Ziel und gibt Anlass zu einer inneren Reise im Hier und Jetzt.
Die gesamte Strecke führt von Canterbury im Südosten Englands über Frankreich und die Schweiz bis nach Rom. In der Schweiz umfasst die spektakuläre Route 12 Etappen, die sich über 215 km erstrecken. Die letzte Etappe in der Schweiz ist auch die steilste, denn hier gilt es, den Pass und das Hospiz auf 2470 m Höhe zu erreichen. Idealerweise legt man diese Teilstrecke in der warmen Jahreszeit zwischen Juni und Oktober zurück.
Moderne Pilger
Dieser Weg lockt viele Pilger, Touristen und Wanderer an – manche sogar auf dem Fahrrad. Claudio Rossetti, der frühere Geschäftsführer der Fondation Barry, und sein Bernhardiner Magnum machten die Pilgerreise zu Fuss – über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg. Sie unternahmen diese Reise mit der Absicht, im Jahr 2023 Papst Franziskus zu treffen. „Ich werde nie unsere Ankunft am Meer bei Marina di Carrara in der Toskana vergessen – vor allem Magnums Miene beim Anblick dieser riesigen Fläche an untrinkbarem Wasser…“, schwelgt er in Erinnerungen. Die Via Francigena befindet sich seit 2017 im Verfahren zur Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe. Im Falle einer Aufnahme würde sie sich in eine lange Liste einreihen, zu der beispielsweise auch der Jakobsweg nach Santiago de Compostela, das Obere Mittelrheintal und die Kii-Berge in Japan gehören.
Informationen: https://www.viefrancigene.org